********UPDATE vom 26.11.21********
Wir haben am 15. März 2021 unser erstes Statement zu unserer Zusammenarbeit mit Werkstätten für Menschen mit Behinderung geschrieben. In der letzten Zeit kam es zu vermehrter Kritik, primär an den Werkstätten aber auch an Unternehmen / Start-Ups, die mit den Werkstätten zusammenarbeiten. Wir haben selbst kaum kritische Nachfragen bekommen, die Debatte und die Kritik aber verfolgt. Dies hat uns dazu gebracht uns nochmal intensiv mit der Thematik auseinander zu setzen und unsere bisherige Haltung zu reflektieren.
Dies haben wir in den letzten Monaten gemacht, vor allem indem wir in den direkten Diskurs mit Akteur:innen des Systems, unter anderem auch Werkstätten, gegangen sind und uns auf verschiedenen Websiten (die Links findet ihr unten im Artikel) informiert haben. Dadurch haben wir wieder viel dazugelernt. Unsere aktuellen Erkenntnisse möchten wir gern mit euch teilen und haben die Updates an thematisch passenden Stellen farbig hier in dem Artikel ergänzt, unten findet ihr noch ein ausführliches Informationsdokument. Wir möchten euch darauf hinweisen, dass dies unsere persönlichen Erkenntnisse, vor allem aus Gesprächen sind, wir können eine Fehlerfreiheit nicht garantieren.
In Werkstätten für Menschen mit Behinderung arbeiten Menschen, die sonst in der Gesellschaft nicht gesehen werden. hejhej liegt es am Herzen, sich für diese Menschen einzusetzen.
Seit dem Anfang unseres Start-ups arbeiten wir mit Werkstätten für Menschen mit Behinderung zusammen. Es gibt viel Kritik an solchen Werkstätten und dieser sind wir uns sehr deutlich bewusst. Dieses Thema ist ein sehr komplexes und großes Thema, ein Blog Artikel kann diesem gar nicht gerecht werden. Dennoch ist es uns sehr wichtig, dass wir euch unsere Meinung dazu transparent offen legen und besonders auch mit euch teilen, wie wir dazu kamen, mit Werkstätten für Menschen mit Behinderung zusammen zu arbeiten. Dies ist also nicht wie gewöhnlich ein Blog Artikel sondern ein Statement von uns. Dieses Statement beruht auf unserer eigenen Meinung, unseren Erfahrungen und Denkweisen.
Wie schon kurz gesagt sind wir uns der Kritikpunkte über Werkstätten für Menschen mit Behinderung sehr deutlich bewusst und es ist uns auch sehr wichtig, dies euch mitzuteilen. Wir teilen viele der Kritikpunkte und haben uns trotzdem dafür entschlossen mit Werkstätten für Menschen mit Behinderung zusammenzuarbeiten. Wir möchten euch hier erklären, wie wir zu unserer Entscheidung gekommen sind.
Für alle, die noch nichts von der Kritik an Werkstätten für Menschen mit Behinderung gehört haben, möchten wir ganz kurz die beiden Hauptkritikpunkte, oder auch unsere zwei größten Kritikpunkte, zusammenfassen:
- Menschen mit Behinderung werden in Werkstätten sehr schlecht bezahlt. *UPDATE*: Dem stimmen wir weiterhin zu. Die Bezahlung für Menschen mit Behinderung in Werkstätten ist schlecht, dies muss sich ändern. Menschen mit Behinderung sind Sozialhilfeempfänger. Egal welche Leistung erbracht wird, bekommt jede:r Mitarbeitende ein Entgelt für die Leistung in den Werkstätten von 150-200€ monatlich – dieses Geld kommt also direkt von der Werkstatt. Zusätzlich beziehen die Mitarbeitenden Grundsicherung und verschiedene Sozialleistung, wie zum Beispiel Wohngeld. Durch die verschiedenen Auszahlungsstellen kommen sie dann im Schnitt auf: ca. 1200€ netto im Monat. Die vielen verschiedene Auszahlungsstellen gestalten den Prozess sehr unübersichtlich und sehr bürokratisch.
- Es findet zu wenig Inklusion statt, da in den Werkstätten Menschen mit Behinderung fast ausschließlich unter sich sind.
Dies sind zwei Kritikpunkte und es gibt natürlich noch mehr, in unserem Statement möchten wir uns auf diese zwei Punkte eingehen und unsere persönliche Gedanken dazu äußern.
Warum haben wir uns also dafür entschlossen mit Werkstätten für Menschen mit Behinderung zusammenzuarbeiten?
Wir haben uns ganz zu Beginn unseres Start-ups gefragt, ob wir mit Werkstätten zusammenarbeiten möchten oder nicht. Natürlich wäre es der Idealfall, wenn Menschen mit Behinderung direkt im Unternehmen mitarbeiten könnten und so richtige Inklusion entsteht. Leider war und ist das für uns als junges Start-up nicht möglich. Wir haben zu zweit gestartet und sind mittlerweile noch immer ein sehr kleines Team aus fünf Frauen, die in ganz Deutschland verteilt remote an hejhej arbeiten. Eine direkte Anstellung war und ist für uns daher aktuell leider nicht möglich.
Genau das ist aber auf jeden Fall unser Ziel und wir hoffen, dass wir dies auch erreichen werden, wenn hejhej weiter wächst und wir mehr Ressourcen zur Verfügung haben. Anfangs ist es aber leider nicht möglich gewesen und daher mussten wir uns die Frage stellen, ob wir mit regulären Betrieben im Bereich Nähen oder mit großen Versand- und Logistikzentren im Bereich Verpacken/Versenden zusammenarbeiten.
Wir haben uns also die Frage gestellt und sind recht schnell dazu gekommen, mit Werkstätten zu kooperieren.
Auch wenn wir nicht allen Punkten zustimmen, gibt es dennoch viele positive Punkte für die Zusammenarbeit mit Werkstätten.
- Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind vor allem auch für finanziell schwächere Familien eine große Hilfe.
- Sie unterstützen Menschen mit jeder Art von Behinderung und geben ihnen Arbeit.
- Integration findet auf jeden Fall statt – besonders wenn Partner Unternehmen regelmäßig vorbeikommen und dort Zeit verbringen.
- Menschen, die dort arbeiten, können bereits nach zwanzigjähriger Arbeit eine Rente erhalten.
- Viele Menschen mit Behinderung lieben es, dort zu arbeiten, und viele Führungskräfte leisten einen unglaublich tollen Job.
- Es passiert aktuell schon etwas und durch das Teilhabe-Gesetz für Menschen mit Behinderung müssen sich auch Werkstätten verändern (natürlich gibt es noch einige weitere Verbesserungspunkte aber zumindest ist dies schon mal ein Anfang).
Wusstet ihr, dass hinter den meisten Organisationen und Werkstätten engagierte Eltern stehen, die sich in den 50er Jahren für ihre eigenen Kinder stark gemacht haben und ehrenamtliche Elterninitiativen gegründet haben? Es gab vorher keine wirklichen Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung.
Es ist immer wieder schön zu sehen, wie in Werkstätten umgedacht wird
Verschiedene Hilfsmittel werden genutzt um komplexe Aufgaben zu lösen. So können Menschen, die nicht zählen können, trotzdem eine genaue Anzahl an Teilen vorbereiten. Wir haben den Zusammenhalt in unseren Partnerwerkstätten bisher sehr positiv erlebt und es herrscht eine tolle Lernkultur in unseren Gruppen, von denen sich andere Teams auf jeden Fall eine Scheibe abschneiden können! Es ist außerdem, ähnlich wie in einem herkömmlichen Unternehmen möglich, sich als Mitarbeiter:in weiter zu entwickeln. In unserer Gruppe ist mittlerweile ein langjährig beschäftigter Mitarbeiter ein Gruppenhelfer. Diese Position hielt sonst immer ein:e Mitarbeiter:in ohne Behinderung inne. Dies sind tolle Erfolge, die uns sehr glücklich machen.
Werkstätten müssen sich aber natürlich noch weiter verändern und die Menschen dort müssen vor allem viel besser bezahlt werden. Zudem muss noch mehr Inklusion stattfinden. Vielleicht können wir da aber ja Anreize zu geben. Wir haben mit unserer Partner Werkstatt schon über verschiedene Punkte gesprochen und das Ziel ist es, ein kleines, inklusives Team aus uns und den Mitarbeiter:innen dort zu schaffen und eben irgendwann dann die Menschen in unserer Firma anstellen zu können. Wir geben der Werkstatt auf jeden Fall immer wieder Impulse und hoffen, dass man damit etwas bewirken kann.
Werkstätten komplett schlecht zu heißen und nicht mit ihnen zu kooperieren finden wir nicht den richtigen Weg. Denn was bringt es zu verurteilen, wenn man selber nichts verändert?
Es gibt rund 700 Werkstätten hier in Deutschland und auch weltweit gibt es unglaublich viele Werkstätten, alle grundsätzlich schlecht zu heißen und diese abzulehnen ist für uns zu einseitig gedacht.
*UPDATE*
Bei aller konstruktiver und weniger konstruktiver Kritik an den Werkstätten findet das staatliche System, welches den Handlungsspielraum der Werkstätten extrem einschränkt, bisher kaum Betrachtung in der Debatte. Werkstätten sind staatlich gefördert und müssen nach behördlichen Vorschriften agieren. Die Entlohnung, die Beschäftigte direkt von der Werkstatt bekommen, ist behördlich vorgeschrieben. Alles was die Werkstatt den Menschen darüber hinaus zahlt, wird von der Grundsicherung der Menschen abgezogen. Zum Beispiel zahlen manche Werkstätten Ihren Beschäftigen Urlaubsgeld, dieses wird dann 1:1 von der Grundsicherung abgezogen. Das Netto Monatseinkommen bleibt also das gleiche. Mit der aktuellen Gesetzgebung ist es also für Werkstätten nicht möglich den Menschen ein höheres Gehalt auszuzahlen. Dies ist nur ein Beispiel, warum die wichtige Debatte rund um eine faire Entlohnung nicht allein über die Werkstätten abgehandelt werden kann. Wir haben versucht, mehrere beteiligte Akteure in dieser 13-seitigen Grafik darzustellen und euch ein paar Fakten zu zeigen, die aktuell nicht immer beleuchtet werden:
Hätten wir uns gegen eine Zusammenarbeit entschieden und würden nun mit anderen Betrieben kooperieren, hätten wir all die regelmäßigen Begegnungen mit den Menschen dort nicht gehabt. Die Menschen dort mögen die Arbeit für hejhej sehr gerne, können sich mit dem Produkt super identifizieren und fühlen sich mit hejhej verbunden. So erzählen sie stolz ihren Familien und Freunden davon oder schneiden sich Zeitungsartikel aus. Sie sind eben ein wichtiger Teil unseres Unternehmens und unserer Produkte. Natürlich können wir nicht für alle Mitarbeiter:innen sprechen und nur für die Teams, mit denen wir zusammenarbeiten.
Unsere Partner Werkstatt hier in Nürnberg ist sehr offen und wir glauben dort wirklich etwas bewirken zu können. Gerade dann ist es wichtig, dass die Werkstätten nicht nur große Unternehmen als Partner haben, denen an der Zusammenarbeit nicht viel liegt. Wir haben als Feedback der Werkstatt bekommen, dass Start-ups denen Inklusion am Herzen liegt und die Lust haben gemeinsam etwas zu verändern genau die richtigen Partner sind und die Werkstätte bereichern.
*UPDATE *
Erneut hat sich gezeigt, dass wir mit unserer Partnerwerkstätte sehr offen in den Diskurs zur aktuellen Debatte gehen konnten. Wir haben offen über die Entlohnung der Mitarbeiter gesprochen. Unsere Partnerwerkstatt heißt es ebenfalls nicht gut, dass sie ihre Mitarbeitenden nur mit einem so geringen Lohn bezahlen kann. Sie spricht sich dafür aus, dass die komplette Entlohnung über die Werkstätte laufen sollte, sodass die Mitarbeitenden einfach regulär bei der Werkstatt angestellt sind. So hätten sie die Möglichkeit auf ein ganz normales Gehalt ohne die zusätzlichen Zahlungen vom Staat. Die behördlichen Prozesse würden vereinfacht werden. Eine Annäherung an ein normales Arbeitsverhältnis würde entstehen und dadurch direkte Wertschätzung für die Arbeit der Mitarbeitenden. Wir glauben, dass dies einer von vielen Lösungsansätzen sein könnte, bei dem die Absicherung der Menschen natürlich trotzdem gewährleistet sein muss.
Eine Zusammenarbeit mit regulären Näh- oder Packbetrieben wäre sicherlich der leichtere Weg gewesen. Große Mengen in kurzer Zeit sind dort kein Problem und man hätte Aufgaben komplett abgeben können. Wir haben uns aber für einen anderen Weg entschieden. Um mehr Inklusion zu erreichen und mit den Menschen in Werkstätten zusammen zu arbeiten, sind wir sehr gerne bereit längere Zeiten, kleinere Mengen und gemeinsam erarbeitete Abläufe auf uns zu nehmen. Wir sind uns all der Kritik bewusst und hoffen, dass wir es aber schaffen etwas zu verändern – in den Werkstätten und in der Gesellschaft.
Es ist gut, kritisch zu sein! Bitte seid dies weiterhin, informiert euch, lest über das Thema und sprecht mit Leuten!
Genau das werden wir auch tun. Versucht aber auch immer beide Seiten zu betrachten und auch immer die Umsetzbarkeit in individuellen Fällen zu bedenken.
*UPDATE *
Wir haben gelernt, dass es in diesem Fall nicht nur zwei Seiten gibt. Der Staat und seine Bürokratie spielen eine zentrale Rolle und Veränderung ist nur möglich, wenn die Gesetzgebung angepasst wird. Es ist aber extrem wichtig, dass wir alle und besonders auch die Werkstätten Druck auf die Politik ausüben – denn es ist nun mal so, dass oft erst dann etwas politisch und systematisch verändert wird. Gerade Werkstätte spielen eine zentrale Rolle in diesem komplexen System und diese Rolle muss daher genutzt werden, um sich für mehr Rechte für Menschen mit Behinderung einzusetzen.
Wir freuen uns sehr über unsere Zusammenarbeit mit den Werkstätten für Menschen mit Behinderung und freuen uns auch auf alles weitere, was noch kommen wird!
Aus heutiger Sicht lässt sich abschließend noch sagen, dass wir weiterhin mit unseren Werkstätten kooperieren werden. Auch diese Frage haben wir uns erneut gestellt. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es aktuell keine zufriedenstellende Lösung wäre, die Kooperation zu beenden. Diese Entscheidung basiert, ergänzend zu den Punkten die du weiter oben im Blog Artikel schon gelesen hast, unter anderem auf folgenden Punkten:
- Uns würden Berührungspunkte fehlen. Wir haben aktuell noch nicht die Möglichkeit, Menschen mit Behinderung direkt anzustellen. Wir sind dabei, über die Zusammenarbeit mit den Werkstätten hinaus, erste Schritte zu machen. Aktuell arbeiten wir mit einer wundervollen Künstlerin für ein Projekt zusammen. Wir versuchen auch immer Menschen bei unseren Fotoshootings auszuwählen, die unsere gesamte Gesellschaft verkörpern und um so auch Menschen mit Behinderung zu repräsentieren. In unserer aktuellen Welt und in der Werbung von Unternehmen, im Fernsehen oder in Social Media Kanälen sieht man aktuell leider immer nur einen Bruchteil unserer Gesellschaft.
- Wir würden unseren Einfluss verlieren. Wir sind für unsere Werkstätten wichtige Partner geworden. Dadurch können wir anders Einfluss nehmen als eine externe Partei. Diese Stellung wollen wir aktuell nicht aufgeben sondern weiter nutzen.
- Wir möchten weiterhin ein Partner der Werkstätte sein, der regelmäßig vor Ort ist, mit den Menschen in den Austausch geht und neue gemeinsame Projekte entwickelt. Es gibt leider so viele Partner, die genau dies nicht tun und es wäre sehr schade, wenn die Werkstätten nun auch noch Partner verliert, die eben genau einen Wandel bewirken wollen. Wir sind auch immer auf der Suche, wie wir die Menschen zumindest etwas finanziell unterstützen können. So haben wir erst vor kurzem Gutscheinkarten als kleine Geschenke an unser gesamtes Werkstatt Team übergeben.
- Wir könnten es uns einfacher machen: Jetzt die Kooperation zu beenden, wäre vielleicht der einfachere Weg. Wir könnten auf herkömmliche Logistikunternehmen und Schneidereien zurückgreifen. Es würde uns wahrscheinlich sehr viel Zeit sparen. So könnten wir uns der Thematik entziehen und in der fernen Zukunft, sobald hejhej größer ist, ein Mitarbeitenden mit Behinderung anstellen. Mehrere Anstellungen liegen in noch weiterer Zukunft, sofern sich das System nicht grundlegend ändert. Doch wer hätte dann aktuell etwas gewonnen?
Hier findest du noch einige informative Seiten, wo du dich über dieses Thema informieren kannst:
https://www.lebenshilfe.de/informieren/arbeiten/wie-viel-geld-bekommen-beschaeftigte-in-wfbm/
Enorm Magazin Ausgabe 01 Feb/März 2021, Seite 14-19
www.mariundanne.com (Schau hier unbedingt mal vorbei, das wundervolle Start-up arbeitet auch mit Werkstätten für Menschen mit Behinderung zusammen. Wir haben mit ihnen auch bereits einen Blog Artikel zum Weltdownsyndrom Tag geschrieben). Hier findest du einen tollen Artikel von ihnen über Werkstätten. Mit Mari&Anne haben wir in letzter Zeit viel über die Debatte gesprochen und auch gemeinsam das Informationsdokument erstellt.
https://www.instagram.com/mariundanne/
https://www.instagram.com/notjustdown/